Einen zum Reden
Jedes Jahr rufen mehr als zwei Millionen Menschen bei der Telefonseelsorge an. Damit sie ihren Kummer, ihre Einsamkeit und Seelenqual anonym aussprechen können, arbeiten 7.500 Ehrenamtliche rund um die Uhr. Unser Autor hat zwei von ihnen bei Nachtschichten begleitet
Von David Leon Vajda
Bitte geben Sie Ihre Codenummer ein. „Ach du lieber Gott, was ist das denn?“ Bitte geben Sie Ihre Codenummer ein. „Das ist ja ganz neu.“ Sie sind für diesen Anruf nicht berechtigt. „Das hat mit der Telefonanlage zu tun.“ „Ach du Scheiße.“ „Habt ihr einen Administrator, den du anrufen kannst?“ „Da bin ich völlig überfragt.“
Es ist später Abend in einem Büroraum, und zwei Männer, Ende siebzig und Ende vierzig, sitzen vor einem Telefon, das sich weigert zu funktionieren. Der ältere Herr mit den langen Armen, den Schaufelhänden und dem großen, offenen Gesicht, der versucht, sich in die Leitung einzuwählen, wird später sagen, dass dies die Schicht ist, in der „die Geister langsam aus den Ritzen“ kommen. Bei den Tagesschichten seien die Probleme subtiler, alltäglicher. Bis auf ein schmales Holzbett in der Ecke schaut der Raum mit der pastellgrünen Wand, dem Auslegeteppich, dem giftgrünen Sitzball und dem grauen Pressspanschreibtisch so sehr nach office-discount.de aus, dass es schmerzt. In einem weißen Ikea-Regal stehen drei verschiedene Sinnspruch-Klappkalender. Auf dem Tisch brennt eine Kerze neben einer Vase voller Tulpen.
Der ältere Herr hat heute einen Lehrling, den er bei insgesamt fünf Schichten anleitet. Normalerweise ist er allein und sitzt dann gebeugt und ganz nah über dem auf Lautsprecher gestellten Telefon, den Kopf in seine großen Hände gestützt, als würde er nach einem schweren Tag innehalten. Manchmal lehnt er auch mit seinem ganzen Oberkörper an der Tischkante und verschränkt die Arme unter dem Tisch, den Blick fest auf das Telefon gerichtet, wenn er spricht, als würde es nur so funktionieren.
Herr Selchow arbeitet seit über zehn Jahren ehrenamtlich bei der Telefonseelsorge und sitzt in dreißig Schichten à vier Stunden pro Jahr am Telefon und hört zu. Er hört vereinsamten, depressiven und suizidalen Menschen zu, er hört Menschen zu, die nicht wissen, wie sie mit großen und kleinen Konflikten umgehen sollen. Die Anrufer sind Menschen mit schizophrenen Schüben, Menschen, die über ihr Auto reden wollen, und Menschen, die wissen wollen, was sie machen sollen, wenn der Nachbar sie anschreit, weil sie immer den Müll vor der Tür stehen lassen. Es rufen alte Frauen an, die abends vor dem Einschlafen noch ein Lied hören wollen, und Herr Selchow singt ihnen dann etwas vor, manchmal singen sie zusammen. Es rufen verzweifelte Schüler an, die nicht mehr mit den Hausaufgaben nachkommen, und betrunkene Polizisten, die an ihrem Job zerbrechen. Herr Selchow sagt dann Dinge wie „Darf ich was fragen?“, „Erzählen Sie weiter“, „Lassen Sie mich eine Zwischenfrage stellen“, „Das ist schon beachtlich, was Sie da geleistet haben“, „Das scheint mir ein wenig widersinnig. Darf ich Ihnen sagen, warum?“, „Ich mach mal einen winzigen Zwischenschritt“, „Einerseits erzählen Sie mir sehr traurige Sachen, andererseits scheint Ihr Leben so reich an …“, „Ich wünsche Ihnen, dass das gelingt“. Es schwingt eine Gutmütigkeit in seiner Stimme, die weder professionell noch bevormundend wirkt. Dazwischen sehr viel „Mmh“ und „Mhm“, essenzielle, affirmative Fülllaute, um zu zeigen, dass er noch da ist und weiterhin zuhört, dass der Anrufer nicht allein ist. Und wenn das „Mhm“ einmal ausbleibt, dann reicht ein „Sind Sie noch da?“, um den Eindruck der ungeteilten Aufmerksamkeit wiederherzustellen.
Einmal ruft ein achtjähriger Junge an, der abends allein zu Hause ist und sich fürchtet, nachdem er sich einen Horrorfilm angeschaut hat. Herr Selchow begleitet ihn per Telefon durch das ganze Haus und schaut mit ihm in jedem Zimmer unters Bett und in die Schränke, um ihm zu zeigen, dass es da nichts gibt, wovor er Angst haben muss. Dann gehen sie gemeinsam in die Küche, und Herr Selchow schlägt vor, dass er sich eine heiße Milch mit Honig macht, die er dann in seinem Bett trinken soll. Und er solle das Licht anlassen, bevor er sich schlafen legt. Herr Selchows großes Gesicht verdoppelt sich durch sein breites Lächeln. „Der Kleine war so selig!“ Der Mann ist zuckersüß. Man möchte mit ihm spazieren gehen, heiße Schokolade trinken, vorm Kamin sitzen und Modellflugzeuge bauen.
Ein anderes Mal ruft ein Vater an, der kurz zuvor seine Tochter vergewaltigt hat. In Selchows heiterer Miene zeichnet sich ein Schatten ab, er sagt: „Hier ist der erste Satz nicht: Was sind Sie denn für ein Schwein? Sondern: Wie geht es Ihrer Tochter? Braucht sie ärztliche Hilfe? Und wissen Sie, was Sie getan haben? Wissen Sie, was das für Folgen für Ihre Tochter hat, was das für juristische Folgen hat? Wir können nur plädieren: Kümmern Sie sich um Ihre Tochter, suchen Sie einen Therapeuten auf. Verstehen Sie das, was Sie getan haben, als ein massives Problem. Wir sagen nicht: Du hast, du musst.“ Hier offenbart sich die radikale, bedingungslose und manchmal schmerzhafte Offenheit der Telefonseelsorge. Auch Straftaten bleiben anonym, und so ist Herr Selchow in einem solchen Fall machtlos. Er muss zuhören und darf nicht moralisieren und Urteile fällen, wo es richtig und intuitiv scheint, genau das zu tun. Die Last, auch für Täter Empathie aufzubringen, geht an diesem stabilen Mann nicht vorbei. Nach einem besonders düsteren Gespräch blockiert er manchmal die Leitung, macht sich ein Marmeladenbrot und trinkt auf dem Balkon einen Tee.
Man könnte seine Methode als sokratisch bezeichnen: Er versucht, den Anrufer durch eine vorsichtige Fragestellung zum eigentlichen Grund des Problems zu führen, um ihm im nächsten Schritt durch weitere Fragen eine mögliche Lösung aufzuzeigen. „Fragen, fragen, fragen. In die Menschen hineinfragen, damit sie ihr Problem artikulieren können. Damit sie aus der Sprachlosigkeit herauskommen. Aus dem geistigen Stottern.“ Das Gespräch beendet er von sich aus nur, wenn Leute anfangen, ihn zu beleidigen, oder bei „Sexanrufern“, die eine Stimme suchen, zu der sie sich einen runterholen können. „Ich sage dann: Onanieren Sie zu Ende, und dann können Sie anschließend wieder anrufen. Aber der Vorgang als solcher kann ohne mich stattfinden.“
Die beiden Männer haben es irgendwie geschafft, in die Leitung zu kommen. Der Lehrling macht heute am Ende einer knapp einjährigen Ausbildung seine siebte Schicht. Während seiner Karriere als Kaufmann ist ihm irgendwann der Lebenssinn abhandengekommen, deshalb ist er hier. Sein Sprachduktus ist der eines erfahrenen Dienstleisters: formell, zuvorkommend, Kompetenz demonstrierend. Der mühelosen Wärme seines Mentors setzt er Eifer und eine präzise Menschenkenntnis entgegen. Während der Gespräche schreibt er Fragen auf, zeichnet kleine Figuren, die er mit Pfeilen zu einem Beziehungsgeflecht des Anrufers verbindet. Als ein eloquenter Anrufer, der durchweg ruhig und bedacht bleibt, bei einer leicht kritischen Frage abrupt auflegt, sagt er: „Das war nur eine Frage der Zeit. Ich habe es gewusst. Das war eine gedeckelte Ruhe, darunter hat es gebrodelt. Er wollte das Gespräch von Anfang an voll und ganz kontrollieren.“ Das ist die Kehrseite der Anonymität: Die Anrufer offenbaren sich nicht nur im Schutz des Telefons, sondern können sich auch dahinter verstecken.
Der Lehrling lässt es immer mindestens zweimal klingeln, bevor er drangeht, als müsste er kurz seine Konzentration sammeln. „Hallo?“ „Hallo.“ „Hallo?“ „Guten Abend. Hören Sie mich?“ „Ja, ich höre Sie.“ Lange Pause. „Sie sind bei der Telefonseelsorge.“ „Ja.“ Pause. Der Lehrling verliert kurz die Geduld: „Was ist der Grund Ihres Anrufes?“ Der alte Mann am anderen Ende der Leitung wettert unablässig, spricht wirr und unartikuliert, scheint senil oder betrunken. Er ist körperlich behindert und hat an diesem Tag eine Diagnose bekommen, die ihm das letzte Stück physischer Unabhängigkeit raubt, ihn zum absoluten Pflegefall degradiert. Er hat niemanden mehr, der sich um ihn kümmert, seine Frau und seine Freunde hat er überlebt. Der Lehrling versucht, dem Anrufer eine Perspektive aufzuzeigen, doch es ist schwierig, das Schicksal des Mannes scheint kein Erbarmen zu kennen. Herr Selchow reicht ihm zwischendurch Schokolade, die er davor in der Packung in einzelne Stücke gebrochen hat. „Es geht doch darum vorzufühlen, ob es jemanden gibt, der Sie ein Stück weit unterstützen kann in Ihrer Hilflosigkeit.“ „Gibt es nicht. Gibt es absolut nicht. Die haben selbst Probleme.“
Der Lehrling lässt es immer mindestens zweimal klingeln, bevor er drangeht, als müsste er kurz seine Konzentration sammeln. „Hallo?“ „Hallo.“ „Hallo?“ „Guten Abend. Hören Sie mich?“ „Ja, ich höre Sie.“ Lange Pause. „Sie sind bei der Telefonseelsorge.“ „Ja.“ Pause. Der Lehrling verliert kurz die Geduld: Als der Anrufer nach vierzig Minuten merkt, dass der Lehrling ihm wirklich helfen möchte und auch kein Geld dafür verlangt, beginnt er, immer klarer und eloquenter zu reden. Es war die Einsamkeit, die ihm die Sprache geraubt hat, nicht das Alter. Der Lehrling sucht ihm im Internet die Nummer und Adresse eines Seniorensozialdienstes in seiner Nähe heraus. „Das ist ja schon mal was ganz Tolles, was Sie mir hier schildern. Und dass Sie so hilfsbereit sind. Man zweifelt einfach an den Menschen. Man sucht keinen Kontakt mehr. Man geht ein, weil man den Menschen nicht mehr vertraut.“ „Ja, genau das darf nicht passieren. Sie müssen Mut und Kraft sammeln, das Kämpferische in Ihnen weiter hervorholen und in Kontakt mit den Menschen bleiben.“ „Deshalb habe ich angerufen. Sie haben mir Mut zugesprochen. Da bin ich sehr dankbar.“ „Es hat mich sehr gefreut, dass Sie angerufen haben. Und denken Sie an meine Worte. Bleiben Sie dran.“ „Ich werde an Ihre Worte denken. Und vielen Dank, dass Sie Geduld gehabt haben.“ „Gern, gern, dafür bin ich ja da.“ „Tschüss.“ „Ciao, tschüss.“ Und sie legen nach eineinhalb Stunden auf. Es bedarf so wenig und bleibt doch sehr viel.
Der Lehrling lässt es immer mindestens zweimal klingeln, bevor er drangeht, als müsste er kurz seine Konzentration sammeln. „Hallo?“ „Hallo.“ „Hallo?“ „Guten Abend. Hören Sie mich?“ „Ja, ich höre Sie.“ Lange Pause. „Sie sind bei der Telefonseelsorge.“ „Ja.“ Pause. Der Lehrling verliert kurz die Geduld: * Die Namen in diesem Text wurden geändert sowie gewisse Details der Geschichten, um die Anonymität der Protagonisten zu wahren.