Eine Abendschicht bei der Telefonseelsorge
Normalerweise sitzt Herr Selchow (Ende siebzig) allein am Telefon, heute hat er einen Lehrling (Ende vierzig), dem er beisteht. Es rufen Menschen an, die einsam, depressiv oder suizidal sind. Ein kleiner Junge, der nach einem Horrorfilm zu Hause Angst hat. Eine alte Frau, die vor dem Einschlafen noch ein Lied vorgesungen bekommen möchte. Ein Mann, der gerade seine Tochter vergewaltigt hat. Unser Autor David Leon Vajda hat die beiden Männer während der Abendschicht, in der „die Geister langsam aus den Ritzen“ kommen, begleitet.
+++ Diese Geschichte stammt aus DUMMY No. 66 zum Thema: Selbstmord. +++
Einmal ruft ein achtjähriger Junge an, der abends allein zu Hause ist und sich fürchtet, nachdem er sich einen Horrorfilm angeschaut hat. Herr Selchow begleitet ihn per Telefon durch das ganze Haus und schaut mit ihm in jedem Zimmer unters Bett und in die Schränke, um ihm zu zeigen, dass es da nichts gibt, wovor er Angst haben muss. Dann gehen sie gemeinsam in die Küche, und Herr Selchow schlägt vor, dass er sich eine heiße Milch mit Honig macht, die er dann in seinem Bett trinken soll. Und er solle das Licht anlassen, bevor er sich schlafen legt. Herr Selchows großes Gesicht verdoppelt sich durch sein breites Lächeln. „Der Kleine war so selig!“ Der Mann ist zuckersüß. Man möchte mit ihm spazieren gehen, heiße Schokolade trinken, vorm Kamin sitzen und Modellflugzeuge bauen.
+++ Das unabhängige Gesellschaftsmagazin erscheint alle drei Monate mit neuem Thema und neuem Design. Zu bestellen auf www.dummy-magazin.de +++
Kommentare
Neuer Kommentar